Die Diskussion über Ladepreise kreist um Wünsche, die vertraut wirken, aber auf Annahmen beruhen, die im heutigen Markt nicht mehr tragen. Dieses Kapitel analysiert, warum das Bild vermeintlicher Kontrolle aus der Tankwelt nicht auf das Laden übertragbar ist, welche Marktmechanismen dahinterstehen und wie Wahrnehmung, Psychologie und Infrastrukturökonomie zusammenwirken. Ziel ist eine nüchterne Einordnung jenseits von Erwartungen und Routinen.
Inhaltsverzeichnis
Ausgangspunkt: Die Erwartungen an das Laden
Die öffentliche Debatte über Ladepreise und Tarife wird von drei Wünschen geprägt: ad-hoc Laden ohne Bindung, ein Preis, der als fair empfunden wird, und das Bedürfnis, jederzeit frei entscheiden zu können, wo und wie geladen wird. Diese Forderungen wirken naheliegend, beschreiben aber weniger den Markt als ein vertrautes Bild aus der Vergangenheit.
Die eigentliche Annahme dahinter lautet: Beim Tanken existierte ein Zustand der Kontrolle, den man beim Laden verloren hat. Das ist eine Illusion. Auch der Kraftstoffmarkt wird seit Jahren algorithmisch gesteuert. Preise ändern sich im Tagesverlauf vielfach. Sichtbare Einfachheit überdeckte verdeckte Steuerung. Die Entscheidungsfreiheit war gefühlt, nicht real.
Diese Differenz zwischen Wahrnehmung und Marktlogik bildet die Basis für das folgende Gedankenexperiment: Was würde passieren, wenn alle heutigen Wünsche eins zu eins umgesetzt würden?
Der Fairness-Mythos
Der Begriff des fairen Ladepreises ist kein ökonomischer, sondern ein emotionaler. Als fair empfunden werden meist Werte, die aus dem Heimtarif oder einzelnen Anbieteraktionen abgeleitet sind. Diese Bezugspunkte sind verständlich, bilden aber nicht die Kostenstruktur von Schnellladeinfrastruktur ab.
Fairness im ökonomischen Sinn ist die Balance aus Kosten, Risiko und Nutzen. Hohe Preise müssen nicht Ausdruck von Margenpolitik sein, sondern können das Resultat geringer Auslastung, hoher Fixkosten und Kapitalkosten sein. Gleichzeitig existieren reale Marktunzulänglichkeiten: überhöhte Ad-hoc-Preise, ineffiziente Strukturen, Qualitätsmängel. Die Kritik daran ist berechtigt.
Die emotionale Reaktion auf Preisvolatilität bleibt nachvollziehbar, verändert aber nicht die Grundlogik, in der Infrastruktur finanzierbar sein muss.
Das Gedankenexperiment: Laden wie Tanken
Wenn alle Forderungen nach Ad-hoc-Freiheit umgesetzt würden, ergeben sich drei strukturell unterschiedliche Marktszenarien. Alle drei zeigen, dass das Bild der vollständigen Kontrolle nicht erreichbar ist, weil Marktmechanismen diese Vorstellung nicht tragen.
Variante 1: Die Tankstellenkopie
Ein fester, sichtbarer Preis ohne Registrierung simuliert Stabilität. Der Anbieter müsste Preisschwankungen des Großhandels selbst ausgleichen. Risiko und Unsicherheit lägen komplett beim Betreiber. Das führt zu steigenden Preisen, da Risiko eingepreist wird, und zu Marktverengung, da nur kapitalstarke Unternehmen diese Volatilität tragen können.
Das erzeugt ein System mit geringer Transparenz und hoher algorithmischer Steuerung. Die gefühlte Einfachheit ist damit ein Rückschritt in Richtung intransparenter Fremdsteuerung.
Variante 2: Die regulierte Preisobergrenze
Ein Preisdeckel schafft auf den ersten Blick Gerechtigkeit. Ökonomisch senkt er jedoch den Deckungsbeitrag der Standorte. Der notwendige Return on Invested Capital entfällt. Investitionen stagnieren, der Ausbau verlangsamt sich, Störungen nehmen zu.
Ein unterdeckter Preis erzeugt ein subventioniertes Oligopol. Das Ziel flächendeckender Versorgung wird unterlaufen, weil die wirtschaftliche Basis fehlt.
Variante 3: Der vollständig offene Markt
Ein hochdynamisches Preismodell reagiert auf Energiepreise, Nachfrage, Wetter und Netzentgelte. Jede Ladung wird situativ neu bepreist. Für Nutzer entsteht ein permanenter Vergleichs- und Kontrollaufwand. Die Kontrolle steigt formal, sinkt aber faktisch, weil der Aufwand zur Wahrnehmung der eigenen Interessen stark zunimmt.
Das System ist transparent, aber überfordernd. Informationsasymmetrien wachsen. Anwendungen, die man eigentlich vermeiden wollte, werden zur Voraussetzung für informierte Entscheidungen. Das Marktverhalten ähnelt dem Kraftstoffsektor: Preisvolatilität, stillschweigende Preisangleichung, begrenzter Wettbewerb.
Die Wahrnehmung der Kontrolle
Die Diskussion über Apps, Preise und Flexibilität ist weniger technisch als psychologisch. Sichtbare Veränderungen an gewohnten Abläufen werden als Kontrollverlust interpretiert. Der Status-quo-Bias verstärkt diese Wahrnehmung. Die Tankstelle gilt als vertrauter Ort, obwohl die dahinterliegende Steuerung nie im Einflussbereich der Nutzer lag.
Beim Laden sind mehr Parameter sichtbar und gestaltbar. Diese Sichtbarkeit wird jedoch als Zumutung empfunden, nicht als Autonomiegewinn. Kontrolle wird nicht verloren, sondern umverteilt.
Ein Markt im Übergang
Der Lademarkt befindet sich zwischen Automatisierung, Regulierung und Wettbewerb. Er ist noch nicht stabil, aber er ist funktional. Diese Übergangsphase erzeugt Reibung. Aus dieser Reibung entsteht Entwicklung – oder ein Rückfall in die Muster der etablierten Energiemärkte.
Offen bleibt die Frage, warum das Abo als Symbol der Fremdsteuerung wahrgenommen wird, obwohl es in einigen Fällen systemisch notwendig ist. Das folgt im zweiten Beitrag der Serie.
Anhang
Quellen, Literatur und Links
zuletzt abgerufen am 17.10.2025
1 – Kontrollillusion: https://doi.org/10.1037/0022-3514.32.2.311
2 – Preisänderungen Tankstellen Bundeskartellamt (MTS-K): https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Newsletter/2025/Newsletter_April.pdf
3 – Spritpreisgestaltung: https://www.heise.de/news/Kartellamt-kritisiert-Spritpreis-Gestaltung-durch-Mineraloelhandel-10467279.html
4 – Kostenstruktur Ladeinfrastruktur: https://www.uni-weimar.de/fileadmin/user/fak/bauing/professuren_institute/Infrastrukturwirtschaft_und-management/Forschung/Promotionsvorhaben/kreft_2020-institutionenoekonomisch_untersuchungen_zum_angebot_von-ladeinfrastruktur_fuer_elektrofahrzeuge.pdf
5 – Marktbeherrschung und Kraftstoffmarkt: https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2012/heft/10/beitrag/feste-benzinpreise-fuer-einen-tag.html
6 – Folgen von Preisdeckelung: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/infrastruktur-2025/559798/warum-es-der-politik-schwerfaellt-fuer-gute-infrastruktur-zu-sorgen
7 – Stochastisches Preismodell: https://www.bundeswirtschaftsministerium.de/Redaktion/DE/Downloads/klimaschutz/inputpapier_flex-ag2_dynamische-tarife-stromsystemperspektive-25-10-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=4
8 – Informationsdefizit/Asymmetrische Information: https://inomics.com/de/terms/asymmetrische-information-1419669
9 – Spritpreis Verordnung Österreich: https://www.wko.at/oe/transport-verkehr/garagen-tankstellen-serviceunternehmungen/spritpreisverordnung
10 – Status Quo Bias: https://www.aeaweb.org/articles?id=10.1257/jep.5.1.193
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